Erläuterungen zum didaktischen Szenario
Lehrplanbezug
Da es sich bei dieser Planung um einen Workshop zu einem Wahlgegenstand bzw. Wahlpflichtgegenstand in Mathematik handelt, muss und sollte das Thema nicht zwingend durch den Lehrplan verpflichtend vorgegeben sein. Sinn und Zweck des Workshops ist es, den Schüler:innen zu ermöglichen, für sie interessante mathematische Zusammenhänge zu erkunden und zu beschreiben, die über den Regelstoff hinausgehen. Das gilt auch für das Räuber-Beute-Modell. Dennoch kann eine grobe Zuteilung zum Lehrplan erfolgen, indem angegeben wird, in welchen Themenbereich das „Räuber-Beute-Modell“ einzuordnen ist:Bereits in der 7. Schulstufe beschäftigen sich die Schüler:innen mit der Differentialrechnung. Im 5. Semester unter „Grundlagen der Differentialrechnung anhand von Polynomfunktionen“ findet sich „Den Differenzen- und Differentialquotienten als Sekanten- bzw. Tangentensteigung sowie in außermathematischen Bereichen deuten können“ (Rechtsinformationssystem des Bundes, 2023), im 6. Semester unter „Erweiterungen und Exaktifizierungen der Differentialrechnung“ ist „Weitere Anwendungen der Differentialrechnung, insbesondere aus Wirtschaft und Naturwissenschaft, durchführen können“ (Rechtsinformationssystem des Bundes, 2023) angeführt. Da das Räuber-Beute-Modell auf Differentialgleichungen basiert und somit die Differentialrechnung eine Voraussetzung für ein Verständnis darstellt, ist das Thema frühestens in der 7. Klasse zu behandeln. Nun werden beim Räuber-Beute-Modell nicht nur einfache Differential-Rechnungen betrachtet, sondern Differential- bzw. Differenzengleichungen. Diese finden sich in der 8. Klasse (7. Semester) unter dem Punkt „Differenzen- und Differentialgleichungen; Grundlagen der Systemdynamik“. Konkreter wird darunter folgendes angeführt:
- Diskrete Veränderungen von Größen durch Differenzengleichungen beschreiben und diese im Kontext deuten können
- Kontinuierliche Veränderungen von Größen durch Differentialgleichungen beschreiben und diese im Kontext deuten können
- Einfache Differentialgleichungen lösen können
- Einfache dynamische Systeme mit Hilfe von Diagrammen oder Differenzengleichungen beschreiben und untersuchen können
Zugang zum Thema
Grundlage, um das Räuber-Beute Modell bearbeiten und verstehen zu können, sind Wachstumsprozesse. Schüler:innen sollten zunächst ein Grundverständnis von solchen Wachstumsprozessen aufbauen. Der Fokus dabei liegt aber nicht auf den zugehörigen Differentialgleichungen und deren Lösung. Bedeutsam ist es, dass die Schüler:innen in Schritte denken können, also mit einer Rekursionsformel umzugehen wissen. In diesem Zusammenhang ist es auch besonders wichtig, dass die vorkommenden Terme richtig interpretiert werden und der Verlauf des Wachstumsprozesses qualitativ beschrieben werden kann. Schließlich sollten verschiedene Wachstumsprozesse, wie beispielsweise das lineare Wachstum, das exponentielle Wachstum, das begrenzte Wachstum und das logistische Wachstum behandelt werden. Dabei soll auf konkrete Anwendungssituationen der jeweiligen Modelle eingegangen und auch Unterschiede der Modelle herausgearbeitet werden. Wachstumsmodelle, in denen es um isolierte Differentialgleichungen und Entwicklungen von einer Population geht, stellen somit eine Grundlage da, auf der ein System aus gekoppelten Differentialgleichungen, wie das Räuber-Beute-Modell, eingeführt und thematisiert werden kann (vgl. Ableitinger, 2011)
Warum lohnt es sich, dieses Szenario durchzuführen?
Dieses gewählte Szenario ist lohnenswert, weil es an die Lebenswelt der Schüler:innen anknüpft und ein für sie interessantes Themengebiet darstellt. Dementsprechend wird auch die Motivation zur Bearbeitung höher ausfallen. Außerdem werden damit wichtige mathematische Kompetenzen und Vorgehensweisen abgedeckt, wie zum Beispiel das Modellieren, Differentialgleichungen, das Interpretieren, der Technologieeinsatz usw., wie es die obige didaktische Analyse bereits konkretisiert. Die Schüler:innen können in Kleingruppen selbstständig an einem solchen Modell arbeiten und erleben dabei den Modellierungsprozess mit. Vor allem das Suchen nach weiteren Verbesserungen des Modells kommt hier zum Tragen, indem neue Parameter und noch komplexere Modelle erstellt werden können. Gerader dieser Schritt bleibt im herkömmlichen Mathematikunterricht oft aus, da häufig Verbesserungsvorschläge nur hinterher diskutiert, aber meist nie tatsächlich umgesetzt werden.
Modellieren im Mathematikunterricht
Das Modellieren im Mathematikunterricht weißt einen starken Realitätsbezug auf. Es wird von einer Problemstellung oder Fragestellung in der Realität ausgegangen. Um eine Lösung zu finden, wird das Problem bzw. die Fragestellung in die Mathematik übersetzt. Dieser Prozess wird als Mathematisierung bezeichnet. Durch das Anwenden von mathematischen Werkzeugen (Formeln, Gleichungen, Grafen, Algorithmen, …) gelangt man zu einem mathematischen Resultat. Dieses Resultat wird dann wieder auf die Realität übertragen. Es folgen Interpretationen und ein Validieren des ursprünglichen Problems der Realität. In diesem Zusammenhang sollten sich die Schüler:innen die kritische Frage stellen, ob das Modell und die zugehörige Lösung für die Realität geeignet und genügend genau ist. Falls nein, kann/muss das mathematische Modell überarbeitet werden. Es handelt sich also um eine Modellierungskreislauf, der durchlaufen wird und beliebig genau angepasst werden kann (vgl. Lindner, 2021).
Dieser vorgestellte Modellierungskreislauf stellt auch Grundlage für die Behandlung des Räuber-Beute-Modells dar. Zu Beginn möchte man in diesem Fall das Verhalten zweier Populationen aus der realen Lebenswelt beschreiben können. Um diese Realität in ein mathematisches Modell zu überführen, müssen entsprechende Annahmen getroffen werden, es kommt also zu Vereinfachungen. Im Falle des Räuber-Beute Modells wären solche Annahmen zum Beispiel: keine weiteren Räuber, keine Krankheiten, konstante Geburten- und Sterberate, unbegrenzter Lebensraum und unbegrenztes Nahrungsangebot für die Beute. Unter diesen Annahmen wird dann ein mathematisches Modell aufgestellt, indem notwendige Parameter (z.B. Geburten- und Sterberaten und Fressfaktor) eingeführt werden. Durch mathematisches Arbeiten, im Falle des Räuber-Beute-Modells das Lösen von gekoppelten Differentialgleichungen oder das Berechnen von Werten durch Rekursion, erhält man mathematische Resultate. Diese werden dann auf die reale Situation übertragen. In diesem Schritt spielen Interpretationen und das Validieren eine wichtige Rolle. Dazu gehören die Interpretation und Auswirkung der einzelnen Parameter, sowie kritisches Denken und Reflektieren, ob die mathematische Lösung realistisch ist. Hierbei soll sich auch wieder bewusst gemacht werden, dass zu Beginn Annahmen getroffen wurden. Gegebenenfalls muss das Modell auch angepasst werden. Zudem kann und soll die Frage gestellt werden, wie ein noch genaueres und besseres Modell erstellt werden könnte.
Bei Modellierungsaufgaben handelt es sich um „echte“ Anwendungen, die für Schüler:innen relevant und authentisch sind. Sie können für Motivation sorgen und Interesse wecken. In diesem Sinne tragen Modellierungsaufgaben dazu bei, dass Schüler:innen ein besseres Verständnis der Umweltsituation erlangen, die Alltagsrelevanz von Mathematik erfahrbar wird und heuristische Strategien wie Problemlösen, Argumentieren und kreatives Verhalten angeeignet werden (vgl. Lindner, 2021).
Alltagsrelevanz und didaktischer Mehrwert
Durch die Behandlung von biomathematischen Modellen, wie das Räuber-Beute-Modell oder der Ausbreitung einer Epidemie, können Themen in den Mathematikunterricht eingebunden werden, die auch in den Medien Präsenz haben. Oft werden solche Themen wild diskutiert und lösen emotionale Reaktionen aus. Mit Hilfe der Mathematik und zugehörigen mathematischen Modellen können solche Themen sachlich betrachtet und diskutiert werden. Die Mathematik ermöglicht es, Wirkungszusammenhänge besser zu verstehen und Abhängigkeiten aufzuzeigen. Einfache Modelle, wie sie in diesem Workshop behandelt werden, erlauben zwar keine quantitative Vorhersage, aber es können qualitative Verläufe verstanden und nachvollzogen werden, was wiederum das Verständnis für solche Vorgänge stärkt. In diesem Sinne trägt die Behandlung von solchen Modellen auch zur Allgemeinbildung bei. Die mathematische Betrachtung solcher Modelle ermöglicht es den Schüler:innen, Prozesse der Natur zu verstehen, Einflussfaktoren zu erkennen und zu interpretieren und Zusammenhänge wahrzunehmen (vgl. Ableitinger, 2011). Besonders dieser Realitätsbezug und die Alltagsrelevanz führen dazu, dass das Interesse der Schüler:innen geweckt und eine entsprechende Motivation zur Behandlung solch mathematischer Modelle aufgebaut wird. Genauso bietet sich diese Thematik dazu an, über mathematische Modelle miteinander zu diskutieren. Damit wird auch die soziale Interaktion zu einem wichtigen Bestandteil des Mathematikunterrichts. Durch Zusammenarbeit können andere Blickwinkel wahrgenommen werden oder Aspekte betont werden, an die eine Einzelperson vielleicht gar nicht denken würde. Vor allem für die Modellierung, in der diverse Annahmen getroffen werden und in der reflektiert und validiert wird, ist es umso wichtiger, verschiedenste Positionen einzunehmen und durchzudenken. Durch das Räuber-Beute Modell kann demnach in der Schule soziale Interaktion angeregt werden. Außerdem kann dadurch auch der Vorteil der Zusammenarbeit erkannt und als wertvoll erlebt werden.
Mehrwert Technologieeinsatz
Für das Räuber-Beute-Modell stellt der Technologieeinsatz speziell für die Auswertung bzw. Interpretation der Parameter und die Beschreibung von Verläufen ein wichtiges Hilfsmittel dar. Durch Differenzengleichungen, welche die mathematische Beschreibung des Modells entsprechen, ist eine rekursive Beschreibung der Entwicklung möglich. Rekursive Berechnungen per Hand sind relativ mühsam, wenn viele Rekursionsschritte notwendig sind. Hier kommt der Mehrwert von Technologie, im Speziellen von Tabellenkalkulationsprogrammen, zum Vorschein. Rekursionsformeln, also im Fall des Räuber-Beute-Modells die Differenzengleichungen, brauchen nur einmal eingegeben werden und damit können in kurzer Zeit eine große Zahl an Durchführungen berechnet werden. Neben der raschen Berechnung vieler Rekursionsschritte ermöglicht Technologieeinsatz auch die zugehörige grafische Veranschaulichung. Dadurch können Verläufe einfach dargestellt werden. Die Veranschaulichung bildet dann eine gute Grundlage, um Verläufe qualitativ zu beschreiben und zu interpretieren. Außerdem können auch Parameter durch Technologieeinsatz einfach analysiert werden, indem verschiedene Zahlenwerte eingesetzt werden können und sofort die neuen zugehörigen Ergebnisse ersichtlich sind. Ohne Technologie müssten hier wieder alle Rekursionsschritte von Beginn an händisch durchgearbeitet werden. In diesem Zusammenhang erweist sich der Technologieeinsatz auch bei der Interpretation als äußerst hilfreich. Es können „Was-wäre-wenn“ Szenarien einfach durchgespielt werden, wodurch wiederum Diskussionsräume geschaffen werden können.
Mehrwert gegenüber Unterricht im Klassenraum
Dieses Thema wurde einerseits als Workshop entwickelt, da das Thema „Räuber-Beute-Modell“ im Lehrplan nicht direkt vorkommt und somit oft nicht die nötige Zeit dafür im Unterricht übrigbleibt. Andererseits bietet die Aufbereitung des Workshops im Gegensatz zum Unterricht im Klassenraum die Möglichkeit, dass die Schüler:innen in Kleingruppen daran arbeiten, ein eigenes Modell zur Ausbreitung einer Pandemie aufzustellen. Dazu können sie auch losgelöst vom Klassenraum in anderen Räumlichkeiten arbeiten. Zudem gibt es keine konkreten Vorgaben, was erreicht werden muss. Das Ziel liegt darin, dass sich die Schüler:innen mit dem Thema auseinandersetzen und im eigenen Tempo Zusammenhänge und Abhängigkeiten erkunden und auch interpretieren. Sie sollten die Einflüsse verschiedenster Parameter herausfinden und einschätzen lernen. Dazu darf auch Technologie verwendet werden. Damit wird es möglich, in der Kleingruppe verschiedenste Verläufe nachzustellen und zu interpretieren. Die Tatsache, dass es sich hier nicht um einen Unterricht im Klassenraum im klassischen Sinne handelt, sollte auch etwas die Angst vor eventuell falschen Vermutungen und Äußerungen nehmen. Jede Idee soll in der Kleingruppe diskutiert und mit Hilfe von Technologie überprüft werden und kann damit zu einem besseren und vertiefteren Verständnis beitragen. Außerdem handelt es sich um einen Workshop, der im Zuge des Wahlpflichtfaches in Mathematik durchgeführt wird. In diesem Sinne sollte hier auch auf die Interessen der Schüler:innen eingegangen werden. Durch den Alltagsbezug ist die Thematik des „Räuber-Beute-Modells“ dabei meist sehr geeignet.
Warum haben Sie diesen Ansatz gewählt?
Die obigen Punkten sind der Grund, warum wir diesen Ansatz gewählt haben.
Die Inhalte gehen über den Lehrplan hinaus, dienen der Vertiefung und haben daher einen großen Mehrwert für die Schüler:innen. Zusätzlich besteht ein großer Alltagsbezug und der Inhalt knüpft an der Lebenswelt der Schüler:innen an. Das Thema bietet auch die Möglichkeit vielfältige inner- und außermathematische Kompetenzen zu fördern (Modellieren, Technologieeinsatz, ...).
Literatur
- Ableitinger, C. (2011). Biomathematische Modelle im Unterricht. Fachwissenschaftliche und didaktische Grundlage mit Unterrichtsmaterialien. Vieweg + Teubner Verlag.
- Linder, A. (2021). FD Mathematik der SEK 2. SS 2021.
- Rechtsinformationssystem des Bundes (2023). Bundesrecht konsolidiert: Gesamte Rechtsvorschrift für Lehrpläne – allgemeinbildende höhere Schulen, Fassung vom 30.03.2023. URL: https://www.ris.bka.gv.at/GeltendeFassung.wxe?Abfrage=Bundesnormen&Gesetzesnummer=10008568