Der Bundesrat in der Praxis

Aufgabe: Schaue dir das Video an und lese den Kommentar durch. Mache dir dabei Notizen zu der Leitfrage des Kapitels.

Kommentar: Wie der Bundesrat der Demokratie schadet (Zeitpunkt: Nach den Landtagswahlen in Berlin 2023) 

"Berlin hat gewählt - aber wer in Berlin regieren wird, ist noch nicht ausgemacht. Doch in ein paar Wochen wird sich eine Koalition gebildet haben. In ihrem Koalitionsvertrag dürfte sich auch ein Punkt finden, über den meist wenig nachgedacht wird: wie Berlin im Bundesrat abstimmt. Doch diese Frage birgt die Chance auf einen echten Neuanfang - nicht nur in Berlin, sondern in ganz Deutschland. Denn derzeit lautet die übliche Antwort auf diese Frage, dass jedes Bundesland im Zweifel gegen ein Bundesgesetz stimmt, sobald nur eine Koalitionspartnerin Nein sagt. Und dieser Brauch ist Gift für unsere Demokratie. Ein plastisches Beispiel für die toxische Wirkung der bisherigen Praxis ist die jüngste Hartz-IV-Reform, auf die insbesondere die SPD große Hoffnungen gesetzt hatte, der der Vorwurf der sozialen Kälte wie ein Mühlstein um den Hals hing. Doch was als Befreiungsschlag geplant war, ist nun nur noch als Reförmchen in Kraft getreten. Insbesondere die umstrittenen Sanktionen bleiben im Kern erhalten - die "Vertrauenszeit" wurde gestrichen, eine sanktionsfreie Phase zu Beginn des Leistungsbezugs. Wie kann das sein, obwohl es im Bundestag eine breite Mehrheit für eine umfassende Reform gab? Obwohl die Wählenden bei der vergangenen Bundestagswahl mit fast 57 Prozent der Stimmen SPD, Grüne, FDP und Linke ein Ende von Hartz IV wählten - und nur zu 24 Prozent die Unionsparteien? Dieses paradoxe Ergebnis beruht auf der Mitwirkung des Bundesrats bei der Gesetzgebung. Bei Zustimmungsgesetzen geht ohne den Bundesrat nichts: Eine Mehrheit muss mit Ja stimmen, andernfalls kommt ein Gesetz nicht zustande. So lag es im Falle der Hartz-IV-Reform: Alle Länder, in denen die Union an der Regierung beteiligt sind, enthielten sich. Erst nach einschneidenden Änderungen stimmten die Länder der Reform zu. […] Das Beispiel macht ein Problem deutlich, dass durch den Missbrauch der Mitwirkungsmöglichkeiten der Länder auf Bundesebene entsteht - und zwar durch alle Parteien, nicht nur wie in diesem Fall durch die Union. Die gegenwärtige Staatspraxis führt dazu, dass Mehrheiten im Bund viel weniger gestalten können, als es im Grundgesetz eigentlich vorgesehen ist. Und so befriedigend es für die jeweilige Opposition im Bund sein mag, Steine in den Weg zu legen - für die Akzeptanz unseres demokratischen Systems ist diese Praxis verheerend. Demokratie bedeutet, dass alle Staatsgewalt vom Volk ausgeht. Sie lebt davon, dass Menschen durch Wahlen tatsächlich etwas verändern können. Die Wahl einer bestimmten Partei setzt sich zwar stets nur indirekt in politisches Handeln um, weil seit Gründung der Bundesrepublik fast immer Koalitionsregierungen gebildet werden mussten, die Kompromisse erfordern. Das politische Spektrum der Parteien, die die derzeitige Bundesregierung tragen, ist zudem so breit wie wohl noch nie seit 1949. Nicht von ungefähr fällt es daher bereits innerhalb der Ampel schwer, einen Konsens zu finden. Wenn jedoch - wie unlängst bei der Hartz-IV-Reform - die Opposition auf Bundesebene über ihre Regierungsbeteiligungen in den Ländern de facto mitregiert, so verschärft sich das Problem, weil nun eine informelle ganz große Koalition gebildet werden muss: Es bedurfte eines Kompromisses quer durch das politische Spektrum, vonder Union bis hin zu den Grünen, damit das Gesetz Bundestag und Bundesrat passieren konnte. Das führt bei allen zustimmungspflichtigen Gesetzen dazu,dass es fast egal ist, wenn die Menschen bei der Bundestagswahl gewählt haben!Denn ein Gesetz kann nur beschlossen werden, wenn fast alle Parteien zustimmen- von der Union bis mindestens zu den Grünen."

- Buermeyer, Ulf (2023): Förderalismus - ein Brauch, der der Demokratie schadet, Süddeutsche Zeitung, https://www.sueddeutsche.de/meinung/ulf-buermeyer-bundesrat-blockade-zustimmungspflichtige-gesetze-demokratie-hartz-iv-reform-opposition-parteien-bundeslaender-1.5752824 [02.01.2023].
Aufgabe: Ergänze den Lückentext mit den beiden Hauptargumenten bezüglich der Leitfrage.