1.8 Kennzahlen im Wandel der Tage

Im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie wurde in relativ kurzer unterschiedliche Kennzahlen in den Vordergrund gestellt. Die war zum einen ein schönes Beispiel, wie die als trocken und angestaubt erachtete Mathematik und Statistik aktuell sind und unser Leben beeinflussen. Innerhalb von ein bis zwei Tagen ging jedem der bis dato neue Begriff flüssig von der Zunge. Zum anderen offenbarte der wiederholte und jedesmal überraschende Wechsel der Kennzahlen, wie neu und ungewohnt der statistische Umgang mit der Pandemie für unsere Gesellschaft ist.
  • Die Verdopplungszeit
Zunächst wurden natürlich die absoluten täglichen Fallzahlen der Infektionen betrachtet. Die erste abgeleitete Kennzahl war dann die Verdopplungszeit, die Zeit, in der sich die (kumulierten) Fallzahlen verdoppelt haben. Mitte März 2020 lag sie noch bei 3 Tagen, dann bei 5 Tagen. Sie müsse „in Richtung von zehn Tagen gehen, damit unser Gesundheitssystem nicht überfordert wird“, sagte Bundeskanzlerin Merkel Ende März. Devise: Je länger desto besser. Nach kurzer Zeit lag die Verdopplungszeit schon über 10, dann über 20 und Anfang Mai über 100. Die in der Bevölkerung mit diesem Schwellenwert 10 Tage verbundenen Hoffnungen, dann würden bald die Lockdown & Shutdown Maßnahmen gelockert, erfüllten sich aber nicht.
  • Die Reproduktionszahl
Am 16.4.20 wurde in einer Rede der Bundeskanzlerin die Aufmerksamkeit auf eine andere, bis dato in der Öffentlichkeit unbeachtete Kennzahl gelenkt, die Reproduktionszahl. Sie sagt etwas darüber aus, wieviele Menschen von einem Corona Infizierten neu angesteckt worden sind. Dabei werden unter Zuhilfenahme ausgefeilter statistischer Verfahren jeweils Zeitintervalle von 4 Tagen beobachtet. Anfangs lag diese mit R benannte Zahl über 3 und sank dann durch die ergriffenen Maßnahmen kontinuierlich. - Ist R > 1, so nimmt die Zahl der aktuell Infizierten (exponentiell) zu. - Ist R = 1, bleibt die Zahl der aktuell Infizierten gleich (es werden genauso viel neu angesteckt, wie gesunden bzw. versterben). - Ist R < 1, so nimmt die Zahl der aktuell Infizierten ab. Am 22. April gab die Bundeskanzlerin die Devise: „Je nachhaltiger die Reproduktionszahl unter eins geht, desto mehr und nachhaltiger können wir auch wieder öffentliches, soziales und wirtschaftliches Leben entfalten“. Da lag aber laut Robert Koch Institut die Reproduktionszahl aber schon seit dem 20. März unter 1. Selbst wenn man einen Zeitpuffer von 2 Wochen zubilligt, um einigermaßen sicher zu sein, dass eine gewisse Stabilität der Daten gegeben ist, führte das doch zu einer wachsenden Ungeduld und abnehmenden Akzeptanz in der Bevölkerung. Die Reproduktionszahl beherrschte dann mehrere Wochen die öffentliche Diskussion. Anfang Mai lag sie bei 0.7, ohne dass es bis zum 5. Mai zu nennenswerten Lockerungen der Beschränkungen gekommen wäre. Um den 9. Mai herum stiegt der Wert von R kurzfristig über 1 auf 1.13. Das Berechnungsverfahren für den R-Wert weicht in der Schweiz übrigens von dem Verfahren des RKI für Deutschland ab! Siehe https://www.nzz.ch/wissenschaft/corona-epidemie-reproduktionszahl-ist-nicht-das-mass-aller-dinge-ld.1556012?fbclid=IwAR1iAtMgJIIqLqARvix1JCeiCnH5QgP9QhG2IrSPmDkIqZ7yrWX3FkPDxpU.
  • Das Konfidenzintervall
In der Presse wird man meist nur eine einzige Zahl für R angegeben, z. B. R = 0.97. Damit wird aber eine nicht vorhandene Exaktheit vorgegaukelt, denn R ist ein Schätzwert und weniger aussagekräftig als gemeinhin gedacht wird. Es handelt sich letztlich um ein Intervall, das sogenannte Konfidenzintervall. In diesem Intervall liegt dann mit hoher Wahrscheinlichkeit von 95% der tatsächliche R-Wert. Der kann aber irgendwo an einer Stelle in diesem Intervall liegen, nicht nur in der Mitte. Und es ist ein großer Unterschied, ob ein Wert von R = 0.9 zwischen 0.8 und 1 schwanken kann oder zwischen 0.1 und 1.7. Je schmaler die Datenbasis ist, desto weiter wird das Konfidenzintervall. In der Neuen Zürcher Zeitung wird das Konfidenzintervall - anders als in deutschen Medien - mit angegeben: Siehe https://www.nzz.ch/wissenschaft/corona-epidemie-reproduktionszahl-ist-nicht-das-mass-aller-dinge-ld.1556012?fbclid=IwAR1iAtMgJIIqLqARvix1JCeiCnH5QgP9QhG2IrSPmDkIqZ7yrWX3FkPDxpU.
  • Die kumulierten Neuinfektionen (7-Tage-Inzidenz)
Der Präsident des RKI, Prof. Wieler, sagt dann am 28.4.20 in der Tagesschau, eine Reproduktionszahl 1 sei allein nicht aussagekräftig. Sie müsste beispielsweise ganz anders bewertet werden, wenn es täglich 50.000 Neuinfektionen in Deutschland gebe. Daraufhin brachte er eine neue Kennzahl ins Spiel: die kumulierten Neuinfektionen der vergangenen 7 Tage, auch 7-Tage-Inzidenz genannt. Sie dominierte sofort die öffentliche Diskussion und fand dann Eingang in die Beschlüsse von Bundesregierung und Ministerpräsidenten der Länder am 6. Mai. Am 6. Mai wurden dann zahlreiche und teilweise umfassende Lockerungen beschlossen mit der Vorgabe, dass in den Städten und Landkreisen die summierte Zahl der Neuinfektionen der letzten 7 Tage nicht über 50 pro 100 000 Einwohner steigen dürfe. Andernfalls müssen wieder Einschränkungen in Kraft treten und Lockerungen zurück genommen werden, diesmal aber regional und nicht bundesweit. Am 6. Mai sind somit also auf höchster Ebene (erstmals) Kenngrößen und Grenzwerte verbindlich genannt worden, damit überprüfbar geworden und mit möglichen Maßnahmen verbunden. Kurz danach gab es aber vereinzelt Überschreitungen in mehreren Landkreisen, in denen aber nur teilweise mit einem Aufschieben der Lockerungen reagiert wurde.
  • Die geglättete Reproduktionszahl
Am 12.5. kam vom RKI eine neue bzw. modifizierte Zahl ins Spiel: die geglättete Reproduktionszahl. Das Problem der Reproduktionszahl ist nämlich, dass bei klein gewordener Datenbasis dann lokale Infektions-Hotspots (z. B. Schlachthof Westfleisch mit über 200 infizierten Fleischerei-Arbeitern) deutliche Auswirkungen auf die Reproduktionszahl hätten. Laut RKI werden nun aus den R-Zahlen Schwankungen durch momentane Ereignisse herausgerechnet, indem man einen 7-Tage-Mittelwert bildet. Diese geglättete R-Zahl soll laut RKI vom 12.5. in der vergangenen Woche an keinem Tag über 1 gelegen haben.
  • Die Corona Ampel
Da einzelne Kennzahlen nur bedingt aussagekräftig sind, hat der Berliner Senat eine eigene 'Corona-Ampel' als Kombination dreier Kennzahlen entwickelt (Reproduktionsfaktor, 7-Tage-Inzidenz, Auslastung der Intensivbetten) mit entsprechenden Regeln, was bei welchen Überschreitungen zu passieren hat.
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  • Superspreading/ Überdispersion - der K-Faktor
Der Reproduktionsfaktor R sagt aus, wieviele Menschen durchschnittlich innerhalb einer Generation (4 – 6 Tage) von einem Infektiösen angesteckt werden. Dieser R-Wert ist aber nur ein Durchschnittswert. Theoretisch könnte es zwar so sein, dass dies genau der Wert ist, der für jeden Infizierten gilt. Es könnte aber auch mehr oder weniger um diesen Mittelwert für R streuen, dass es also größere Unterschiede gibt. Dann könnten einige wenige sehr viele infizieren, aber viele infizieren nur sehr wenige. Dann spricht man von Überdispersion, die durch einen sogenannten Dispersionsfakor K (oder ) zwischen 0 und 1 charakterisiert wird. Dies wurde von Prof. Drosten in seinem NDR-Podcast vom 28.5.2020 thematisiert. Bei einem Wert von K nahe 1 gibt es nur geringe Abweichungen vom Durchschnittswert, bei einem Wert K nahe bei 0 gibt es sehr große Abweichungen vom Durchschnittswert. Je kleiner der K-Wert ist, desto größer ist die Bedeutung von wenigen Situationen für umfangreiche Infektionsfälle. Superspreading/ Überdispersion hängt nicht vorrangig an einer Person (dem ‚Superspreader‘, von dem in der Presse meist die Rede ist), sondern an Gelegenheiten, an Superspreading-Events. Denn wenn ein Hoch-Infektiöser zuhause sitzt, kann er keine anderen infizieren. Bei Covid 19 ist der K-Wert noch nicht exakt bekannt. Erste Schätzungen bzw. grobe Berechnungen deuten auf einen Wert von K = 0.45 hin. Das bedeutet laut Prof. Drosten, dass 10% bis 20% der Infizierten ca. 80% der Neu-Infektionen ausmachen. Das kann man so deuten, dass man mit einem gezielten Unterbinden von Superspreading-Events die weitere Ausbreitung der Pandemie eindämmen kann, ohne einen kompletten gesellschaftlichen Lockdown durchzuführen. Das geht dann von der Kreuzfahrt oder dem gemeinsamen Singen (Gottesdienst) über prekäre Arbeits- und Wohnverhältnisse (Schlachthof) bis zu Partys (Apres Ski Ischgl) und Großveranstaltungen (Fußball) und zeigt die Bedeutung des Tragens von Gesichts-Mund-Masken z.B. im ÖPNV. Dies gibt dann auch Hinweise an die Politik, wo man unter welchen Vorgaben weiter lockern kann und wo man mit Lockerungen vorsichtig bleiben sollte. https://www.youtube.com/watch?v=fOHB6PtcoMU https://www.t-online.de/nachrichten/deutschland/id_87960200/virologe-christian-drosten-entsetzt-es-gab-zwei-weitere-angriffe-auf-mich-.html#utm_source=websuche&utm_medium=t-online-ergebnisse&utm_campaign=link1